I. Allgemeine Anmerkungen
Die Deutsche Bischofskonferenz, der Deutsche Caritasverband und die Deutsche Ordensobernkonferenz begrüßen, dass mit dem Gesetzentwurf der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt durch den Ausbau der staatlichen Strukturen der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Betroffenenbeirat und Unabhängiger Aufarbeitungskommission gesetzlich gestärkt werden soll. Das Verhindern von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen und ihre Aufarbeitung sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben, wobei der katholischen Kirche ihre Verantwortung für eigene Strukturen zum Schutz vor Missbrauch, zur Aufarbeitung von Missbrauch und zur Anerkennung von Leid sehr bewusst ist. Aufklärung, Aufarbeitung und Anerkennung dieser Gewalt wie auch die Unterstützung und Beteiligung der betroffenen Personen sind bleibende Herausforderungen, denen sich die Kirche stellt. So wurden in den (Erz-)Diözesen und Ordensgemeinschaften Strukturen für Prävention geschaffen, Regelungen für Intervention beschlossen, Möglichkeiten und Strukturen zur Betroffenenbeteiligung entwickelt und ein Verfahren zur Anerkennung des Leids eingerichtet. Ferner haben die Deutsche Bischofskonferenz und die Deutsche Ordensobernkonferenz mit dem UBSKM am 28.04.2020 bzw. 17.05.2021 Rahmenbedingungen für unabhängige Aufarbeitung auf der Grundlage der jeweiligen „Gemeinsamen Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche“ vereinbart.
Es ist zu begrüßen, dass erstmals auf Bundesebene zahlreiche gesetzliche Bestimmungen zur individuellen und institutionellen Aufarbeitung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geschaffen werden. Durch Bestimmungen in § 1 und § 3 UBSKMG-E, in den Aufgabenkatalogen der bzw. des Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und der Unabhängigen Aufarbeitungskommission, durch erweiterte Akteneinsichtsrechte und durch den Ausbau eines Qualitätsmanagements im Sozialgesetzbuch VIII sowie Ergänzungen im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz wird hierfür ein Gesamtkonzept geregelt.
Die Stärkung und gesetzliche Verankerung des Amtes der oder des Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ein zentraler Schritt für die weitere Sichtbarmachung und gesellschaftliche Bearbeitung des Themas. Allerdings lässt der Entwurf trotz einer breiten politischen Diskussion hierzu staatliche Standards für eine einheitliche und verbindliche Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt vermissen. Solche Standards sind notwendig, um die gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt zu verbreitern und zu stärken.
Mit Blick auf die gesetzliche Verankerung des Amtes einer oder eines Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen (Unabhängige Bundesbeauftragte oder Unabhängiger Bundesbeauftragter) erscheinen stärkere ressort- übergreifende Befugnisse für die Unabhängige Bundesbeauftragte oder Unabhängiger Bundesbeauftragter wünschenswert, die für die Verbreiterung des Themas und zugleich die Bündelung zum Themenfeld sinnvoll sind.
Es sollte geprüft werden, ob in einem weiteren Schritt für schutz- und hilfebedürftige Erwachsene, die ebenfalls besonderen Schutz vor sexueller Gewalt und Ausbeutung benötigen, dem vorliegenden Gesetzentwurf entsprechende gesetzliche Schutz-, Präventions- und Aufarbeitungs- regelungen geschaffen werden.
II. Zu den Regelungen im Einzelnen:
1. Zu Art. 1, § 1 Abs. 1 UBSKMG-E – Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt undAusbeutung
Wir begrüßen, dass in den Katalog der Maßnahmen, die das in § 1 Abs. 1 S. 1 UBSKM-E betonte subjektive Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt und Ausbeutung verwirklichen sollen, auch die Gewährleistung von Aufarbeitung für alle in Kindheit und Jugend von sexueller Gewalt betroffenen Personen aufgenommen ist. Die Gesetzesbegründung spricht in diesem Zusammenhang von einem „Recht von Betroffenen auf Aufarbeitung, wenn insbesondere Staat und Institutionen nicht in der Lage waren, sie als Kinder zu schützen und geschehene Taten nachzuverfolgen“. Wir regen an, ein „Recht auf Aufarbeitung“ auch ausdrücklich in den Gesetzestext aufzunehmen.
2. Zu Art. 1, § 1 Abs. 2 UBSKMG-E – Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt und Ausbeutung
Wir begrüßen, dass die Online-Dienste in § 1 Abs. 2 UBSKMG-E ausdrücklich genannt werden. Es ist von besonderer Bedeutung den Missbrauch im digitalen Raum in die Präventions- und Schutzmaßnahmen miteinzubeziehen. Hier ergeben sich besondere und dringliche Herausforderungen, die spezielle Anforderungen an den Schutz der Kinder und Jugendlichen stellen. Präventionsmaßnahmen und -schulungen aus der analogen Welt bringen auch Schutz im digitalen Raum.
Zusätzliche zielgerichtete Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt im Netz sind jedoch notwendige Ergänzungen wie etwa Schutzkonzepte im digitalen Raum und (Fort-)Bildungsangebote für Fachkräfte zu Schutz und Hilfe bei sexueller Gewalt im Netz. Hierzu zählen auch altersgerechte Melde- und Beschwerdemöglichkeiten und niedrigschwellige Hilfeangebote für Betroffene.
3. Zu Art. 1, § 2 UBSKMG-E – Aufklärung, Sensibilisierung und Qualifizierung zum Schutz vor sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Die multiprofessionelle Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die zum Ziel hat, bundeseinheitliche Maßnahmen, Materialien und Medien zur Sensibilisierung, Aufklärung und Qualifizierung von Fachkräften und Eltern zum Themenfeld sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu entwickeln, wird grundsätzlich begrüßt.
Die in § 2 Abs. 1 S. 1 UBSKMG-E vorgesehene Einbeziehung zahlreicher Akteure und Institutionen ist wichtig, um sicherzustellen, dass die vielfältigen Aspekte, die in Bezug auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt von Bedeutung sind, berücksichtigt werden. Des Weiteren sollte auch die Beteiligung von Selbstvertretungen junger Menschen und Eltern sichergestellt werden. Sie können den Blick dafür schärfen, was Kinder, Jugendliche und Familien brauchen, um in institutionellen Kontexten sichere Orte zu erfahren. Die entwickelten Materialien und Medien sollten außerdem barrierefrei zugänglich sein, das heißt mehrsprachig, in Leichter Sprache, verschriftlicht und audiovisuell. Einem rechtebasierten Ansatz folgend gilt es in dem multiprofessionellen Zusammenwirken die Rechte der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt zu stellen und die Weiterentwicklung der institutionellen Infrastruktur an der Verwirklichung ihrer Rechte auszurichten (UN-KRK, SGB VIII, GG).
Die in § 2 Abs. 1 S. 3 UBSKMG-E vorgesehene Unterstützung der Einrichtungen bei der Entwicklung, Anwendung und Umsetzung von Schutzkonzepten wird befürwortet. Gerade mit Blick auf schulische Einrichtungen und Institutionen des Gesundheitswesens wird damit notwendigen Handlungsbedarfen Rechnung getragen. Für die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ist allerdings zuvörderst die Fachaufsicht der überörtlichen Jugendhilfeträger in der Pflicht und begleitet mit ihrer Expertise die Beförderung der Umsetzung institutioneller Schutzkonzepte. Entsprechend darf die neue Verantwortung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nach § 2 UBSKM-E nicht dazu führen, dass der überörtliche Jugendhilfeträger in der Sicherstellung des Kinderschutzes weniger Stärkung erfährt. Ganz im Gegenteil ist insbesondere hier der Ausbau personeller und finanzieller Kapazitäten relevant, um Prävention, Intervention und Aufarbeitung im Kinderschutz auch auf überörtlicher Ebene gewährleisten zu können. Andernfalls wird der zweite Schwerpunkt im Bereich der Prävention und Qualitätsentwicklung – die Erweiterung des Anwendungsbereichs von Schutzkonzepten auf alle Aufgabenfelder der Kinder- und Jugendhilfe (§ 79a Abs. 1 SGB VIII-E) – hinter seinen fachlichen Ansprüchen zurückfallen.
4. Zu Art. 1, § 3 UBSKMG-E – Unterstützung für Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend
Die gesetzliche Verankerung einer Unterstützung von Betroffenen durch ein Beratungssystem auf Bundesebene begrüßen wir.
Die Begleitung und Beratung von Betroffenen erfordern angesichts des Ziels von § 3 Abs. 2 UBSKMG-E, Betroffene zur individuellen Aufarbeitung zu ermutigen und dabei zu unterstützen, ausreichende Ressourcen. Wir haben die Sorge, dass die laut Gesetzentwurf angesetzten 2,5 Mio. Euro jährlich hierfür nicht ausreichen.
5. Zu Art. 1, § 4 UBSKMG-E – Die oder der Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen
Die gesetzliche Verankerung der oder des Unabhängigen Bundesbeauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen mit den vorgesehenen Einrichtungen (Arbeitsstab, Betroffenenrat und Aufarbeitungskommission) begrüßen wir. Es ist wichtig, dass sie gestärkt und dauerhaft erhalten bleiben. Damit sie ihre, mit dem Gesetzentwurf erweiterten Aufgabe erfüllen können, müssen sie personell und finanziell angemessen ausgestattet sein.
Zusammen mit der Ausgestaltung des Amtsverhältnisses als Bundesbeauftragte bzw. Bundesbeauftragter war in Vorentwürfen die Pflicht zur Unterstützung durch Bundesbehörden und öffentliche Stellen des Bundes geregelt. Dabei orientierte sich diese Regelung an § 94 Abs. 1 AufenthG und § 28 AGG, wonach den jeweiligen Bundesbeauftragten Beteiligungsrechte ebenfalls gesetzlich garantiert werden. Wir regen an, diese Beteiligungsrechte auch den Unabhängigen Bundesbeauftragten nach § 4 UBSKMG gesetzlich einzuräumen.
6. Zu Art. 1, § 7 UBSKMG-E – Berichtspflicht
Die Berichtspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung begrüßen wir als ein kontinuierliches Element, in denen wichtige Informationen, zentrale Herausforderungen und sich daraus ergebende Empfehlungen der Politik übermittelt werden. So wird den Fachausschüssen und dem Plenum von Bundestag und Bundesrat eine gute Grundlage für die Beratung und Erörterung von Maßnahmen der Prävention, Intervention, Hilfen und Unterstützungsleistungen sowie der Aufarbeitung zur Verfügung gestellt. Das Ziel, im Rahmen der Erstellung des Berichts regelmäßig Erhebungen zum Dunkelfeld durchzuführen und unabhängig auszuwerten, wird ausdrücklich begrüßt.
7. Zu Art. 1, § 15 UBSKMG-E – Unabhängige Aufarbeitungskommission
Die vorgesehene gesetzliche Verankerung der Unabhängigen Aufarbeitungskommission wird im Interesse einer Stärkung besonders der gesellschaftlichen und institutionellen Aufarbeitung sehr begrüßt. Mit Blick hierauf regen wir eine Berücksichtigung der folgenden Aspekte bei der gesetzlichen Ausgestaltung an.
Der Bundesvorstand der Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen in den (Erz-)Diözesen auf Basis der „Gemeinsamen Erklärung“ weist allerdings darauf hin, dass der Gesetzentwurf weder ein förmliches Berufungsverfahren dieser siebenköpfigen Kommission noch die Qualifikationsvoraussetzungen für eine Berufung regelt. Die Gesetzesbegründung erläutert lediglich, dass Sachverstand verschiedener Fachdisziplinen im Themenfeld gebündelt werden soll.
Mit Blick auf die Aufgaben der Kommission erscheint eine Regelung in § 15 Abs. 1 UBSKMG-E zum Berufungsverfahren und zu den Qualifikationsanforderungen an die Kommissionsmitglieder sinnvoll.
Der Aufgabenzuschnitt bei der Unabhängigen Aufarbeitungskommission bündelt die Stärkung, Beobachtung und Überprüfung von Aufarbeitungsprozessen, jedoch ohne dass im Gesetz gesamtgesellschaftlich verbindliche Standards an Aufarbeitungsprozesse und Betroffenenbeteiligung geregelt werden. Solche Standards wären von zentraler Bedeutung für eine einheitliche und umfassende Aufarbeitung in Institutionen und Gesellschaft. Der Ausschuss für unabhängige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bereich von Ordensgemeinschaften, angesiedelt bei der Deutschen Ordensobernkonferenz, merkt hierzu an, dass das Fehlen einheitlicher Standards dazu führe, dass weiterhin ausschließlich bilaterale Vereinbarungen im Format einer „Gemeinsamen Erklärung“ mit der UBSKM unabhängige Standards für Aufarbeitungsprozesse definieren.
Der Bundesvorstand der Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen der (Erz-)Diözesen auf Basis der „Gemeinsamen Erklärung“ weist ferner darauf hin, dass § 15 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 UBSKMG-E die vorgesehene Unabhängige Aufarbeitungskommission damit beauftragt, andere „institutionelle Aufarbeitungsprozesse in Deutschland“ zu beobachten und zu überprüfen. Das Gesetz regele weder Kompetenzen, Verfahren, Parameter und Konsequenzen dieses Überprüfungsverfahrens. Aus der Gesetzesbegründung gehe hervor, dass die Unabhängige Aufarbeitungskommission ihr Prüfraster selbst zu erarbeiten habe. Der Bundesvorstand der Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen der (Erz-)Diözesen auf Basis der „Gemeinsamen Erklärung“ hält dies für rechtlich unzulässig, weil der Gesetzgeber potenzielle Eingriffe an die Unabhängige Aufarbeitungskommission delegiere, ohne das Maß und das Ziel des Eingriffs selbst zu regeln. Es fehle an einer gesetzlichen Festlegung von Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung, wie es beispielsweise Art. 80 Abs.1 GG bei Verordnungen vorsieht. Sofern die Gesetzesbegründung als Maßstab für die Überprüfung auf die 2019 von der Unabhängigen Kommission zur Aufklärung sexuellen Kindesmissbrauchs veröffentlichten Empfehlungen „Rechte und Pflichten: Aufarbeitungsprozesse in Institutionen“ verweist, reicht dies nicht aus.
8. Zu Art. 1, § 16 UBSKMG-E – Verschwiegenheitspflicht
Die Regelungen zur Verschwiegenheitspflicht und das sich daraus ergebende Zeugnisverweigerungsrecht für die oder den Unabhängigen Bundesbeauftragten und für die Mitglieder der Aufarbeitungskommission sind zu begrüßen. Für die Zusammenarbeit mit Betroffenen ist es unabdingbar, dass Vertraulichkeit und Verschwiegenheit gesetzlich abgesichert sind.
Dies gilt in gleichem Maße für die Tätigkeit von Beraterinnen und Berater in Fachberatungsstellen und/oder Fachkommissionen wie zum Beispiel unabhängige Aufarbeitungskommissionen und unabhängige Ansprechpersonen. Wir bitten um Prüfung, ob nicht auch diesen Personen in den einschlägigen Prozessordnungen ein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt werden sollte.
9. Zu Art. 2, § 9b Abs. 1 SGB VIII-E – Aufarbeitung
Bisher erfolgt die Akteneinsicht für laufende Verwaltungsverfahren in der Regel auf der Grundlage des § 25 SGB X. Der neue § 9b SGB VIII erweitert dieses bisherige Verfahren und soll sicherstellen, dass betroffenen Personen auch darüber hinaus Akteneinsicht und Auskunft gewährt wird. Dies wird grundsätzlich befürwortet.
Allerdings sind im Referentenentwurf bisher lediglich Erziehungshilfe-, Heim- und Vormundschaftsakten erfasst. Um betroffenen Personen die Einsichtnahme bzw. den Zugang zu Informationen umfassend zu ermöglichen, sollte das Recht zur Akteneinsichtnahme auf die Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII und die Hilfen für junge Volljährige nach §§ 41 f. SGB VIII in § 9 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII erweitert werden. Für eine konsequente Ausgestaltung sind dann weiter Akten für die hilfeplananalogen Leistungen nach §§ 19, 20 SGB VIII sowie zusätzlich konsequenterweise Vorgänge der Vormundschaft und auch der Ergänzungspflegschaften zu berücksichtigen. Zudem sollten auch Vorgänge zu Eingliederungshilfen für junge Menschen, die nicht im SGB VIII aufgeführt sind, einer Akteneinsicht zugänglich gemacht werden.
10. Zu Art. 2, § 9b Abs. 2 und 3 SGB VIII-E – Aufarbeitung
Bei der Etablierung von Aufbewahrungsfristen ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem berechtigten Interesse Betroffener auf Aufarbeitung und das Recht der leistungsempfangenden Personen auf Vergessen zu berücksichtigen. Die vorzeitige Löschung von personenbezogenen Daten muss aber auf ausdrückliches Verlangen der betroffenen Person vor Ablauf der Aufbewahrungsfrist möglich sein. Wichtig ist ebenfalls, dass die Aufbewahrungspflicht nicht dazu führt, dass Familien aufgrund früherer Hilfen Stigmatisierungseffekte erleiden, die mit dem Zweck des Gesetzes nicht zu vereinbaren sind. Es ist sicherzustellen, dass die aufbewahrten Akten im Sinne dieses Gesetzes vorgehalten werden, um solche Vorgänge aufzuklären, die der Schutzrichtung dieses Gesetzes entsprechen oder sonst schutzwürdige Belange des Betroffenen berühren.
Konsequenterweise ist die Aktenaufbewahrungs- und Auskunftspflicht, die über Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen, auch bei öffentlichen Trägern sicherzustellen, da gerade das Zusammenwirken zwischen öffentlichem Träger und freien Träger für eine umfassende Aufarbeitung relevant sein kann.
Bei der Akteneinsicht sind schützenswerte Belange Dritter zu beachten. Dies erfordert immer eine Entscheidung im Einzelfall mit einer Abwägung der schützenswerten Interessen der auskunftsbegehrenden Person. Für diese Prüfungen wäre es sehr wünschenswert, eine einheitliche Definition des berechtigten Interesses zur Akteneinsicht sicherstellen, gerade mit Blick auf den unbestimmten Rechtsbegriff der gewichtigen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung. Ein berechtigtes Interesse ergibt sich keinesfalls schon aus der Tatsache, dass Missbrauch stattgefunden hat, sondern immer nur aus dem Anliegen der Person, die Informationszugang bzw. Akteneinsicht beantragt. Zudem sollte das Akteneinsichtsrecht zur Durchsetzung des Zugangsrechts konkreter ausgestaltet werden. So sieht z.B. die DSGVO eine Frist für die Bereitstellung von Auskünften vor, während das SGB VIII keine solche Frist enthält.
Anders als bei Behörden und Kirchen, soweit sie als juristische Personen des öffentlichen Rechts über Archiv-Strukturen verfügen, müssen viele Bereiche der Freien Wohlfahrtspflege für so lange Aufbewahrungszeiten erst noch Strukturen aufbauen, wofür Zeit und Ressourcen benötigt werden.
11. Zu Art. 2, § 79 a SGB VIII-E
Die Erweiterung der Vereinbarungen nach § 77 Absatz 1 Satz 1 SGB VIII um die Regelungen zur Mitwirkung an erforderlichen wissenschaftlichen Analysen nach § 79a Absatz 2 SGB VIII für die Qualitätsentwicklung und -sicherung zum Gewaltschutz von Kindern und Jugendlichen wird sehr begrüßt.
Allerdings bedarf es für die fachliche Fundierung von Schutzkonzepten aber auch mehr finanzieller Ressourcen in der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe. Dabei ist es wichtig, die Schutzkonzepte nicht nur auf den Schutz vor sexualisierter Gewalt zu reduzieren. Wie die Ergebnisse vieler Studien zeigen, steht sexualisierte Gewalt häufig in Verbindung mit weiteren Gewaltformen. Präventionsansätze und Schutzkonzepte müssen daher entsprechend ganzheitlich ausgerichtet sein.
III. Weitere Regelungsbedarfe
1. Stärkung präventiver Hilfen über Bundesmodelle
Vor dem Hintergrund der steigenden Inobhutnahmezahlen gibt es weiteren Handlungsbedarf in der Stärkung präventiver Hilfen. Problematisch ist, dass präventive Projekte trotz nachweislich guter Wirkung immer wieder Kürzungen unterliegen. Hier müssen mehr Bundesmodelle auf den Weg gebracht und evaluiert werden. Um das Zuspitzen von Kinderschutzfällen zu vermeiden, ist es außerdem notwendig, Bedarfslagen der Familien früher zu erkennen. Ein wichtiger Ankerpunkt sind dabei die Institutionen des Aufwachsens junger Menschen – Kindertagesstätten und Schulen. Um den Eltern frühzeitig Hilfestellung zu bieten, präventiver und systemisch zu handeln, sollte die Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen von Kitasozialarbeit und Schulsozialarbeit strukturell nachhaltig mit den Regelsystemen verbunden und als Mitleistungsträger im Sinne eines unterstützenden Netzwerkes für Bildung, Gesundheit und Sicherheit einbezogen werden.
2. Regelungen zur Evaluation
Der Gesetzentwurf sieht keine Evaluierung der geplanten Bestimmungen vor. Zumindest für Teile des geplanten Gesetzes sollte eine Evaluation vorgesehen werden. So sollte geprüft werden, ob die in § 1 Abs. 1 S. 2 UBSKMG-E vorgesehenen Maßnahmenkataloge hinreichend konkret sind, um die beabsichtigten Wirkungen zu erreichen. Auch für die Struktur und die Aufgabenbereiche der Kommissionen kann sich möglicherweise Anpassungs- und Ergänzungsbedarf ergeben. Ferner sollten die vorgesehenen Änderungen im SGB VIII evaluiert werden.
3. Verstetigung eines Fonds Sexueller Missbrauch
Wir sprechen uns dafür aus, die subsidiäre Inanspruchnahme aus einem „Fonds Sexueller Missbrauch“ auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen und dauerhaft zu verankern. Die gesetzliche Regelung eines solchen Fonds wäre ein deutliches Signal an Betroffene, dass neben den vorgesehenen Beratungs- und Unterstützungsangeboten sowie Akteneinsichts- und Auskunftsrechten auch die finanzielle Unterstützung von Betroffenen für erlittenes Leid eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Berlin, Bonn, Freiburg den 25.04.2024