Nach Einschätzung des Katholischen Büros in Berlin ist der Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs (BT-Drs 20/13775) weder minimalinvasiv, noch eine „moderate Weiterentwicklung des geltenden Rechts“, noch berücksichtigt er ausgewogen die Rechte der Beteiligten. Es ist richtig, dass ungewollt schwangere Frauen sich in einer sehr schwierigen Situation befinden und ihre Grundrechte angemessen zu wahren sind. Sie haben zurecht Anspruch auf die explizite Unterstützung von Staat und Gesellschaft. Der Entwurf hat nun aber vor allem die Rechte der Frau im Blick. Das zweite betroffene Rechtsgut, das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und sein Schutz, auf den das Kind existentiell angewiesen ist, ist kaum noch auszumachen. Ausgegangen wird offenbar von einer gerade in der Frühphase der Schwangerschaft geschwächten grundrechtlichen Stellung des Embryos/Fetus. Mit der Einführung eines solchen verfassungsrechtlich abgestuften Lebensschutzkonzepts ebnet der Entwurf den Weg zu einem verfassungsrechtlichen und ethischen Paradigmenwechsel, der bei einer Verabschiedung Eingang in die Gesetzgebung fände und Auswirkungen auf andere Rechtsgebiete hätte. Selbst die Beratung darf nicht mehr zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen, ein Verstoß der Schwangeren gegen die Beratungspflicht ist nicht mehr strafbewehrt, die Wartefrist zwischen Beratung und Abbruch als Reflexionszeit entfällt und auch die Ärzte begehen nur noch eine Ordnungswidrigkeit, wenn sie gegen die ihnen obliegenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen verstoßen. Ein solcher Entwurf ist abzulehnen. Es wäre wichtig, die politische und gesellschaftliche Debatte – der Komplexität des Themas angemessen – mit mehr Zeit und deutlich differenzierter und sachlicher zu führen.
Stellungnahme
Zu dem am 14.11.2024 eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs (BT-Drs. 20/13775) nehmen wir zum jetzigen Zeitpunkt wie folgt kurz Stellung:
1. Bei der gegenwärtigen Debatte um eine Reform des Schwangerschaftsabbruchs werden zu Recht die Rechte der schwangeren Frau betont: die Achtung ihrer Menschenwürde und ihres Persönlichkeitsrechts, das ihre Selbstbestimmung über ihre persönliche Lebensgestaltung umfasst, sowie ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit. Ungewollt schwangere Frauen befinden sich in einer sehr schwierigen Situation. Ihre Grundrechte sind angemessen zu wahren und sie verdienen die explizite Unterstützung von Staat und Gesellschaft durch Rat, Tat und Hilfe. Druck von außen, wirtschaftlicher Zwang oder soziale Not dürfen in einer Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft nicht den Ausschlag geben.
Der Schwangerschaftsabbruch berührt daneben aber ein weiteres existenzielles Interesse: das Recht auf Leben jedes einzelnen Menschen, wozu auch das ungeborene Leben gehört. Staat und Gesellschaft müssen ihrer Schutzpflicht für das ungeborene Leben nachkommen, auf deren Wahrnehmung das Kind lebensentscheidend angewiesen ist.
Dieses zweite betroffene Rechtsgut – das ungeborene Leben und sein Schutz – rückt nun aber im Verhältnis zu der Grundrechtsposition der Frau in der Diskussion um eine Reform des Schwangerschaftsabbruchs deutlich in den Hintergrund. Dies gilt auch für den vorgelegten Gesetzentwurf, bei dem der Schutz des ungeborenen Lebens nur noch schwer auszumachen ist. Der Entwurf ebnet den Weg für einen grundlegenden verfassungsrechtlichen und ethischen Paradigmenwechsel, der dann auch Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche hat. Orientiert an dem Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin sowie an ausgewählten Stimmen im verfassungsrechtlichen Schrifttum wird die geltende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs für die Frühphase, die auf der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1993 basiert, als nicht mehr haltbar betrachtet. Anders als es in der politischen und öffentlichen Diskussion mitunter dargestellt wird, stellt er keinesfalls nur eine „moderate Weiterentwicklung des geltenden Rechts“ dar:
a. Der Entwurf will eine verfassungsrechtliche Neubewertung auf zwei Ebenen vornehmen.
- Zum einen will der Entwurf eine verfassungsrechtliche Neubewertung in Bezug auf die grundrechtliche Stellung des ungeborenen Lebens vornehmen, wenn er wie die Kommission – und entgegen dem geltenden Recht – von einem auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht anwachsenden Lebensrecht des Embryos/Fetus auszugehen scheint und allein auf Stimmen im verfassungsrechtlichen Schrifttum Bezug nimmt, die den Schutz des ungeborenen Lebens sowohl im Hinblick auf seine Eigenschaft als Träger der Menschenwürde als auch im Hinblick auf sein umfassendes Lebensrecht von Anfang an in Frage stellen (siehe S. 17 des Gesetzentwurfs). Es ist den Entwurfsverfassern vorzuhalten, dass sie eine solcherweise veränderte grundrechtliche Stellung des ungeborenen Lebens nicht explizit benennen, sondern diese lediglich mit Verweisen auf Kommissionsbericht und ausgewählte Literaturstimmen in die Gesetzgebung einführen beziehungsweise den Weg dafür ebnen wollen. Demgegenüber wird die Grundrechtsposition der schwangeren Frau ausführlich dargelegt (siehe S. 3 des Gesetzentwurfs). Ein abstufbarer Schutz des ungeborenen Lebens sowie die Infragestellung seiner Menschenwürde bedeutete aber eine Abkehr des Gesetzgebers von der geltenden verfassungsrechtlichen Bewertung, nach der nicht zwischen unterschiedlichen biologischen Entwicklungsgraden unterschieden wird und menschlichem Leben generell Menschenwürde zukommt. Denn der Mensch entwickelt „sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch“. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu. Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen“ (BVerfGE 88, 203, 252). Wird der Entwurf verabschiedet, besteht die erhebliche Gefahr, dass ein abgestuftes Lebensschutzkonzept in die Gesetzgebung Eingang findet. Es bedeutete einen verfassungsrechtlichen und ethischen Paradigmenwechsel, der dann auch Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche wie z.B. die Regulierung der Reproduktionsmedizin, die Embryonen- und Stammzellforschung oder Fragen der genetischen Selektion hat (vgl. zur verfassungsrechtlichen Situation die Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe vom 23.11.2023 anlässlich der Anhörung der AG 1 der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin).
- Zum anderen erfolgt eine Neubewertung auf der Ebene der verfassungsrechtlichen Abwägung der betroffenen geschützten Rechtspositionen, wenn wieder mit Verweis auf den Kommissionsbericht gefolgert wird, dass der Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase zwingend rechtmäßig ist. Hier scheint ebenfalls die angenommene schwächere grundrechtliche Stellung des Embryos/Fetus der Abwägung der Grundrechtspositionen zu Grunde zu liegen und zu der konkreten Ausgestaltung der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs im Schwangerschaftskonfliktgesetz zu führen. In § 218 Strafgesetzbuch verbleibt nach dem Entwurf nur noch die Regelung, wenn der Abbruch durch einen Dritten verursacht wird und gegen oder ohne den Willen der Schwangeren erfolgt.
b. Der Entwurf hält zwar beim Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase an der 12 Wochen-Frist und an der Beratungspflicht im Grundsatz fest. Die Beratung darf aber nun auch nicht mehr daran orientiert sein, zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen. Die Ermutigung zur Fortsetzung der Schwangerschaft war aber ein wesentlicher Baustein des geltenden Rechts zum Schutz des ungeborenen Lebens und Ausdruck der verfassungsrechtlich verankerten Schutzpflicht des Staates in der Frühphase der Schwangerschaft. Nach den Entwurfsverfassern soll „der Schutz des ungeborenen Lebens stattdessen bei der Schwangeren auf die informierte, nicht belehrende Beratung und soziale Unterstützung setzen.“ Auch das ist irreführend, da die Beratung schon nach geltendem Recht nicht belehren oder bevormunden sollte. Die Ermutigung zur Fortsetzung der Schwangerschaft nun als Bestandteil der Beratung aber zu streichen, bedeutet eine weitere Schwächung des Schutzes des ungeborenen Lebens.
Gleiches gilt für die vorgeschlagene Streichung der dreitätigen Wartefrist. Die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ist irreversibel. Eine Ermutigung zur Fortsetzung der Schwangerschaft und eine gesetzlich vorgeschriebene Reflexionszeit kann im Übrigen auch selbstbestimmungsförderlich wirken. Denn Selbstbestimmung kann ja nicht einfach abstrakt bestimmt und im Einzelfall unterstellt werden, sondern ist kontextualisiert zu betrachten. Sie hat einen relationalen Gehalt, der insbesondere aus sich gegenseitig beeinflussenden sozialen Bindungen entsteht.
c. Die Durchführung von rechtswidrigen Schwangerschaftsabbrüchen ohne Einhaltung der Rechtsmäßigkeitsvoraussetzungen nach § 12 SchKG-neu soll nach § 14 SchKG-neu zwar strafbewehrt sein. Dies gilt aber nach dem Entwurf wiederum nicht für die Schwangere. Sie kann damit auch gegen die Beratungspflicht verstoßen, ohne dass dies strafrechtliche Folgen zeitigt. Damit ist ein tragender Baustein des Lebensschutzes auch nicht strafbewehrt. Nach geltender verfassungsrechtlicher Rechtsprechung verpflichtet aber das Grundgesetz den Staat, das ungeborene Leben durch „Verhaltensanforderungen“ zu schützen, die nicht lediglich freiwillig sein dürfen. Sie sind vielmehr mit verbindlichen Rechtsgeboten mit verbindlichen Rechtsfolgen auszugestalten und sollen „Elemente des präventiven wie des repressiven Schutzes miteinander verbinden“ (BVerfGE 88, 203, 252 f).
d. Ein Verstoß von Ärzten gegen die ihnen im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch obliegenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen, der nach geltendem Recht strafbewehrt ist, wird nach dem Entwurf in § 14a SchKG-neu zu einer bußgeldbewehrten Ordnungswidrigkeit herabgestuft. Auch dies ist – wie die Ausgestaltung der Neuregelung insgesamt – als eine Herabstufung der Wertigkeit der Normen und der dahinterstehenden Regelungsziele – Schutz des ungeborenen Lebens – zu verstehen (siehe auch die Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe vom 23.11.2023 anlässlich der Anhörung der AG 1 der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin)
2. Es wäre nach alledem angesichts der betroffenen grundsätzlichen ethischen und verfassungsrechtlichen Fragen sehr wichtig, die politische und gesellschaftliche Debatte – der Komplexität des Themas angemessen – mit mehr Zeit und deutlich differenzierter und sachlicher zu führen:
- Es wird davon gesprochen, die Verortung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafrecht kriminalisiere und stigmatisiere die Frauen. Dieses Narrativ bildet aber die geltende Regelung nicht angemessen, sondern verzerrend ab (siehe auch hierzu die Stellungnahme des Kommissariats der deutschen Bischöfe vom 23.11.2023). Die geltende Regelung setzt auf die Letztentscheidung der Frau und basiert schon heute auf dem Prinzip „Hilfe statt Strafe“. Beim beratenen Schwangerschaftsabbruch wird die Frau ausdrücklich straflos gestellt, die Frau soll gerade nicht kriminalisiert werden. Dem Strafrecht kommt nach dem Bundesverfassungsgericht die Aufgabe zu, die Achtung und grundsätzliche Unverletzlichkeit menschlichen Lebens zu schützen. Es ist daher regelmäßig der Ort, „das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs zu verankern.“ Die Verortung im Rahmen der Delikte, die gegen das Leben gerichtet sind, dient dazu, das Bewusstsein vom verfassungsrechtlichen Rang des Rechtsguts des ungeborenen Lebens, sein Recht auf Leben, wach zu halten, das im Schwangerschaftskonflikt existentiell gefährdet ist. Die geltende Regelung beinhaltet damit aber ausdrücklich keine Kriminalisierung des individuellen, beratenen Schwangerschaftsabbruchs.
- Im Hinblick auf die völkerrechtliche Situation bleibt weiter darauf aufmerksam zu machen, dass es keine völkerrechtliche Pflicht zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts gibt, sei es in der Früh- oder in der Spätphase. Die Einleitung zum Gesetzentwurf unter „C. Alternativen“ (siehe S. 5) stellt insofern rechtlich und sachlich unzutreffend fest, dass die derzeitige Rechtslage „im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen Deutschlands, wie sie in den von Deutschland ratifizierten internationalen Menschenrechtsverträgen festgelegt sind,“ steht. Diese Fehleinschätzung geht wohl auf die in Kapitel 6 des Berichts der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin getroffenen, bereits mit Mängeln behafteten Aussagen zurück (siehe zu der von der Kommission in ihrem Bericht veröffentlichten Darstellung des völker- und europarechtlichen Rahmens für die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs die weitergehende Einschätzung des Kommissariats der deutschen Bischöfe vom 24.06.2024). Insofern die Entwurfsverfasser unter Verweis auf die WHO Abortion Guidelines behaupten, eine strafrechtliche Regelung senke die Abbruchrate nicht, lassen sie unerwähnt, dass diese Aussage der WHO auf zwischen 2010 und 2019 veröffentlichte Studien beruht, die in Australien, Brasilien, Chile, El Salvador, Äthiopien, Irland, Mexiko, Nordirland, den Philippinen, Ruanda, Senegal, Tansania, Uruguay und Sambia durchgeführt wurden (vgl. die WHO Abortion Care Guidelines S. 24). Sowohl die Situationen in den meisten dieser Staaten, als auch die zwischen 2010 und 2019 in allen diesen Staaten bestehenden Regelungen von Schwangerschaftsabbrüchen weichen so grundlegend von der deutschen Situation und Rechtslage ab, dass Rückschlüsse auf oder für Deutschland nicht tragfähig sind und sich im Grunde verbieten. Im Übrigen stützen sich im Völkerrechtsraum erhobene Forderungen nach einer außerstrafrechtlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen im Schwerpunkt auf die Annahme, dass eine strafrechtliche Erfassung von Schwangerschaftsabbrüchen Frauen und Mädchen dazu zwingen würde, auf unsichere, ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährdende Schwangerschaftsabbrüche zurückzugreifen. Es gibt aber keine tragfähigen Hinweise darauf, dass die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in den §§ 218 ff. Strafgesetzbuch Frauen und Mädchen in Deutschland zu illegalen, sie in ihrer Gesundheit oder gar ihrem Leben gefährdenden Schwangerschaftsabbrüchen treibt. Die geltende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland ist somit auch der Sache nach mit den völkerrechtlichen Anforderungen zum Schutz von Selbstbestimmung und Gesundheit der Frau vereinbar.
- Selbstverständlich dürfen Frauen nicht ohne eine ausreichende medizinische Versorgung sein. Bei der Diskussion über die Versorgungslage bedarf es aber eines sehr differenzierten Blicks. Die derzeitige Datenlage lässt – anders als es immer wieder zu hören ist – nicht den Schluss zu, die medizinische Versorgungslage sei einfach schlecht oder es bestehe eine Kausalität zwischen der geltenden Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in den §§ 218 ff. Strafgesetzbuch und der Versorgungslage. Dies zeigt nicht zuletzt auch die Unstimmigkeit innerhalb der Kommission über die Aussagekraft der Ergebnisse der sogenannten ELSA-Studie (vgl. S.145/146 des Kommissionsberichts). So ist etwa kritisch zu hinterfragen, dass einfach ein neuer Entfernungsmaßstab (40-PKW-Minuten) eingeführt und der Bewertung zugrunde gelegt wird. Weitere kritische Aspekte sind die Interpretation der (mehrdeutigen) Meldestellen-Daten und die Bedeutung der regionalen Ebene bei der Bedarfs- und Versorgungsplanung. Im Kommissionsbericht fehlt insbesondere auch eine Einordnung der Versorgungslage zum Schwangerschaftsabbruch in den Kontext der grundsätzlichen medizinischen Versorgung (Ambulantisierung; Spezifika des ländlichen Raums; die Berücksichtigung der allgemeinen gynäkologischen Versorgung wie der Rückgang von Geburtskliniken). Die Sicherstellung der Versorgungslage ist Aufgabe der Bundesländer. Durch die im Juli 2024 beschlossene Verfeinerung der Bundesstatistik (vgl. BT-Drs. 20/10861) werden künftig auf regionaler Ebene bessere Daten vorhanden sein. Sie können die Bundesländer künftig auch noch besser dabei unterstützen, ihren Auftrag zur wirksamen Umsetzung des geltenden legislativen Schutzkonzepts nach §§ 218 ff. Strafgesetzbuch in Verbindung mit dem Schwangerschaftskonfliktgesetz zu erfüllen, wie etwa durch zielgerichtete Maßnahmen vor Ort in Zusammenarbeit mit den kassenärztlichen Vereinigungen und Landesärztekammern. Zu berücksichtigen ist auch, dass die ELSA-Gesamtstudie insgesamt erst Ende Oktober 2024 offiziell dem Bundesgesundheitsministerium übergeben wurde. Eine Auswertung durch das Ministerium liegt noch nicht vor, auch eine Diskussion der Ergebnisse im Rahmen von Anhörungen und in der Gesellschaft hat überhaupt noch nicht stattgefunden.
- In Deutschland gibt es laut Statistik prozentual weniger Schwangerschaftsabbrüche als in anderen europäischen Ländern. Auch wenn ein Ländervergleich an Grenzen stößt, weil neben der Regulierung immer auch soziale, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren eine entscheidende Rolle spielen, deutet dies darauf hin, dass dem geltenden legislativen Schutzkonzept durchaus eine Wirkung zum Schutz des ungeborenen Lebens zukommt. Auffallend ist jedenfalls, dass in Frankreich in den letzten Jahren nach den erfolgten Liberalisierungen auch die Abbruchzahlen gestiegen sind. In Frankreich wird jede vierte Schwangerschaft abgetrieben, in Deutschland jede achte.
- In der politischen Debatte wird immer wieder darauf verwiesen, 80 Prozent der Bevölkerung seien für eine außerstrafrechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs beziehungsweise eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchrechts in der vorgelegten Weise. Selbst unter Katholikinnen und Katholiken seien es rund 65 %. Es dürfte aber zweifelhaft sein, dass diese Zahlen überhaupt repräsentativ sind. Es könnte sich vielmehr um eine Behauptung auf unsicherer Faktengrundlage handeln, die aber geeignet ist, die öffentliche Meinung stark zu prägen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Umfragen, Trendstudien und Meinungsbilder zur Beibehaltung oder Abschaffung von § 218 Strafgesetzbuch gibt, die zu durchaus unterschiedlichen, zuweilen gegenteiligen Ergebnissen kommen. So kam insbesondere eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Mai 2023 zu dem Ergebnis, dass 54 % der befragten 1257 Personen sich gegen eine Abschaffung des § 218 Strafgesetzbuch aussprachen, während lediglich 36% eine solche Abschaffung befürworteten. Offenbar gehen die angeblichen 80% der Bevölkerung, die eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs befürworten, auf eine vom BMFSFJ in Auftrag gegebene und im Oktober 2024 veröffentlichte Bevölkerungsumfrage zurück. Diese kommt nämlich zu dem Ergebnis, dass 75,3% der befragten Personen der Meinung sind, dass frühe Schwangerschaftsabbrüche (in den ersten 12 Wochen) „eher nicht“ im Strafgesetzbuch geregelt werden sollen und 80,2 % es „eher für falsch“ halten, dass im deutschen Recht ein Schwangerschaftsabbruch, zu dem sich eine ungewollt schwangere Frau nach einer Beratung entscheidet, als rechtswidrig gilt. Diese Bevölkerungsumfrage wurde vom Unternehmen Civey per Online-Befragungen an drei Tagen, vom 11.03. bis zum 13.03.2024, und mit 5017 Teilnehmern durchgeführt. Sie betraf damit nicht den erst am 14.11.2024 vorgelegten, konkreten Gesetzentwurf, der nun Gegenstand der Debatte ist. Nach eigenen Angaben von Civey ist diese Bevölkerungsbefragung „repräsentativ“. Das BMFSFJ selbst spricht hingegen von einem „Meinungsbild zur reproduktiven Selbstbestimmung“ in Form einer „Online-Umfrage von Civey“. Die Repräsentativität der Ergebnisse solcher Online-Umfragen wird vielfach schon wegen ihrer Methodik generell angezweifelt. Denn bei Online-Befragungen werden die Teilnehmer über tausende im Internet verteilte URLs zur Teilnahme an der Umfrage eingeladen. Teilnehmer nehmen dann zunächst aus eigener Initiative, also im Rahmen einer Art Selbst-Rekrutierung, teil. Bei dieser Methodik liegt es nahe, dass sich gerade Teilnehmer melden, die ihrer Stimme für ein Thema besonderes Gewicht verleihen wollen. Ob dies auch bei der Civey-Umfrage der Fall war, ist mangels detaillierter Angaben zu den Teilnehmern in dem vom BMFSFJ veröffentlichten „Meinungsbild“, den Ergebnissen der Civey-Umfrage, nicht ersichtlich. Hieran wird auch deutlich, dass dieses „Meinungsbild“ den branchenüblichen Standards nicht entspricht: Im Gegensatz zu der bereits erwähnten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen enthält das BMFSFJ-„Meinungsbild“ selbst keine hinreichend differenzierende Abbildung des Teilnehmerpools. So ist beispielsweise bei den konfessionell aufgesplitteten Ergebnissen unklar, auf welche Anzahl von an der Civey-Umfrage teilnehmenden Katholiken sich die ermittelten 61,2% beziehen, die eine Regelung des frühen Schwangerschaftsabbruchs nicht im Strafgesetzbuch befürworten. Dabei macht es einen großen Unterschied in der Aussagekraft, ob es sich hier um 100 oder um 2000 Katholiken handelt. Darüber hinaus unterscheiden sich die von Civey einerseits und von der Forschungsgruppe Wahlen andererseits gestellten Fragen in ihren Formulierungen und beigefügten Kontextinformationen fundamental: während die Civey-Umfrage bspw. fragt, ob Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen eher im Strafgesetzbuch geregelt werden sollen oder eher nicht, weist die Forschungsgruppe Wahlen zunächst auf die aktuelle Rechtslage und die Möglichkeit der Strafffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs nach den §§ 218 ff. Strafgesetzbuch hin und stellt erst dann die Frage, ob eine Weitergeltung oder Abschaffung des § 218 Strafgesetzbuch befürwortet wird. Selbst wenn man also die Repräsentativität der Civey-Umfrage unterstellen würde, hat die bloße Formulierung der Frage zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in oder außerhalb des Strafrechts offenbar 40% der Bevölkerung zum Wechsel ihrer Antwort verleitet. Ein Hinweis auf die Aberkennung oder Schwächung des Lebensrechts des ungeborenen Kindes durch eine Streichung des § 218 Strafgesetzbuch oder seine im Gesetzentwurf vorgeschlagene Neufassung würde wahrscheinlich auch nicht folgenlos für ein Umfrageergebnis bleiben. Angesichts dieser schwerwiegenden Schwächen sollte davon Abstand genommen werden, sich in der öffentlichen Debatte auf die genannten Zahlen aus dem BMFSFJ „Meinungsbild“ zu berufen. Der Umstand, dass dieses „Meinungsbild“ erst im Oktober 2024 veröffentlicht, seine Ergebnisse aber bereits im April 2024 von ausgewählten Medien dargestellt wurden, dürfte ebenso wenig zu einer sachlichen Debatte beigetragen haben.
- In der Debatte völlig zu kurz kommt bislang leider auch der in der Praxis zu beobachtenden verstärkte Einsatz pränataldiagnostischer Verfahren und seine Auswirkung auf die Entscheidung, die Schwangerschaft abzubrechen. Das gilt nicht nur für den Fall der Spät-, sondern auch für die Entscheidung in der Frühschwangerschaft. Diesen Aspekt thematisiert auch der Entwurf nicht. Bereits bei der heutigen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs besteht aber die Gefahr einer verdeckten Rückkehr zu einem Schwangerschaftsabbruch nach embryopathischer Indikation. Auch Mitglieder des Deutschen Bundestags stellen die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen kassenfinanzierten nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) und einem Anstieg der Abbruchzahlen gibt. Sie fordern ein Monitoring der Konsequenzen sowie die Einrichtung eines interdisziplinär besetzten Gremiums, welches die rechtlichen, ethischen und gesundheitspolitischen Grundlagen der Kassenzulassung des NIPT prüft (BT-Drs. 20/10515).
3. Die derzeitige politische Ausnahmesituation zwischen Vertrauensfrage und Neuwahlen, die zudem schon stark vom Wahlkampf geprägt ist, eignet sich nach alledem überhaupt nicht, um noch kurzfristig eine verfassungsrechtliche Neubewertung des Schwangerschaftsabbruchsrechts vorzunehmen. Der Gesetzentwurf wurde nach dem Bruch der Regierungskoalition erst am 14.11.2024 eingebracht. Er beinhaltet wie dargestellt, ohne dass die Entwurfsverfasser selbst klar Position beziehen, einen ethischen und verfassungsrechtlichen Paradigmenwechsel, der bei einer Verabschiedung Eingang in die bundesdeutsche Gesetzgebung fände. Der Entwurf stellt damit auch keinesfalls nur eine „moderate Weiterentwicklung des geltenden Rechts“ dar.
Die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Fragen bedürfen aber einer sachlichen Erörterung in einem normalen, üblichen parlamentarischen Verfahren, in dem ausreichend Zeit für eine angemessene Auseinandersetzung und eine breite gesellschaftliche Debatte bleibt. Die noch nicht veröffentlichte ELSA-Gesamtstudie bedarf ebenfalls noch der fachlichen Auswertung, um vertiefte und differenzierte Erkenntnisse zur Versorgungslage zu erhalten. Dafür müssten im Grunde aber auch die Daten aus der erst im Juli 2024 beschlossenen Verfeinerung der Bundesstatistik berücksichtigt werden.