I. Allgemeine Anmerkungen
Wir danken für die Gelegenheit zur Stellungnahme und nehmen diese gerne wie folgt wahr.
Zu Recht werden in der gegenwärtigen Debatte um den Schwangerschaftsabbruch die Rechte der schwangeren Frau, die Achtung ihrer Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 GG) und ihres Persönlichkeitsrechts (Artikel 2 Absatz 1 GG) sowie ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 GG) betont.
„Das Recht auf Selbstbestimmung ist Teil der menschlichen Würde und fordert darum unser Eintreten für eine fortschreitende Befreiung des Menschen aus Unmündigkeit und Fremdbestimmung“, so haben es die beiden großen Kirchen in ihrer Erklärung von 1989 „Gott ist ein Freund des Lebens“ als einen leitenden Gesichtspunkt bei der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch formuliert. Sie machen dabei aber auch deutlich, dass Selbstbestimmung ihre Grenze an dem Recht des anderen findet.1 Die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs berührt neben dem Selbstbestimmungsrecht der Frau, ihrer Personalität und Würde ein weiteres existenzielles Interesse: das Recht auf Leben jedes einzelnen Menschen, wozu auch das ungeborene menschliche Leben gehört. Aus christlicher Perspektive folgt aus der Gottebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen seine Würde und sein unbedingtes Lebensrecht.2 Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das des Ungeborenen, zu schützen. Die Rechtsposition des ungeborenen Lebens wurzelt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls in der Menschenwürde. Eine gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs muss also sowohl die Grundrechtsposition der Frau als auch die des ungeborenen Lebens in verfassungsrechtlich gebotener Weise berücksichtigen. Dabei ist die besondere Beziehung von Mutter und Kind in der Schwangerschaft zu beachten: die schwangere Frau trägt das ungeborene Leben in sich („Zweiheit in Einheit“). Es kann nur mit ihr geschützt werden. Zugleich wird man aber auch berücksichtigen müssen, dass ein Schwangerschaftsabbruch zum Tod des ungeborenen menschlichen Lebens führt. In der Debatte sollten die Interessen von Frau und ungeborenem Leben nicht gegeneinander ausgespielt werden.3
Eine völkerrechtliche Verpflichtung des nationalen deutschen Gesetzgebers zu einer Neujustierung der geltendenRegelungen zum Schwangerschaftsabbruch kann auch nicht einfach angenommen werden. Die Regelung desSchwangerschaftsabbruchs und die hier notwendige Abwägung der Rechte der Frau und der Rechte des ungeborenen Lebens liegt zunächst in der Kompetenz des nationalen Gesetzgebers4.
Die Befürworter einer Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts argumentieren, dass die geltende Regelung dem Selbstbestimmungsrecht der Frau nicht hinreichend Rechnung trägt. Sie regen eineVerortung der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts an. Im Strafgesetzbuch wären damit nur noch Rechtsvorschriften zum Schutz des geborenen Lebens enthalten und allenfalls noch solche, die Schwangerschaftsabbrüche gegen den Willen der schwangeren Frau betreffen oder die nicht von einem Arztvorgenommen werden. Im Übrigen würde der Anspruch auf gleichen Schutz von ungeborenen wie geborenen menschlichen Leben aufgegeben. Beim vorgeburtlichen Leben handelt es sich aber von Anfang an um individuelles Leben, das als menschliches Leben immer ein sich entfaltendes Leben ist. Es hat nach christlicher Auffassung Anspruch auf den gleichen Schutz seines Lebens und ihm kommt die gleiche Würde zu.5 Auch das Bundesverfassungsgericht betont, dass spätestens mit der Nidation von einem menschlichen Leben auszugehen ist, das „in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit“ bereits festgelegt ist und dem der verfassungsrechtlich gebotene Schutz unabhängig vom Entwicklungsstadium zugewähren ist.6 Es ist nicht ersichtlich, wie nach Entwicklungsstufe und Lebensfähigkeit des Menschen abgestufte Lebensschutzkonzepte diesem ethischen Anspruch und dieser Wertentscheidung unserer Verfassung gerechtwerden und dem Eindruck entgegenwirken können, ungeborenes Leben sei weniger schützenswert als geborenes.
Vor diesem Hintergrund halten wir an einer Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafgesetzbuch fest und befürchten, dass eine Regelung außerhalb des Strafrechts dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens nicht ausreichend Geltung verschafft. Ein abgestuftes Schutzkonzept eröffnet zudem die Gefahr, die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens auch in anderen Lebenssituationen abzustufen und damit aufzuweichen7 (II. 1 und 2).
Wir können ferner nicht erkennen, dass sich durch die Streichung der §§ 218ff StGB die rechtliche und tatsächliche Situation von ungewollt schwangeren Frauen verbessert. Hierfür bedarf es anderer Anstren- gungen der Gesellschaft und des Sozialstaats, für die es keiner Änderung des Strafrechts bedarf (II.3).
Schließlich sollte bei der Diskussion um §§ 218ff StGB betrachtet werden, dass die geltende Regelung dem Lebensschutz bei einer vermuteten oder diagnostizierten Behinderung des ungeborenen Kindes nicht hinreichend Rechnung trägt (II.4).
II. Im Einzelnen
1. Die geltende Rechtslage wird kritisiert, weil sie den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch kriminalisiere und die Unrechtsbewertung betone. Dies führe dazu, dass die Möglichkeit, Schwangerschaftsabbrüche vornehmen lassen zu können, begrenzt und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen eingeschränkt sei, und ungewollt Schwangere sowie Ärztinnen und Ärzte stigmatisiert würden. Wir halten die Einschätzung, die geltenden Regelungen würden den Schwangerschaftsabbruch in unangemessener Weise kriminalisieren, rechtlich nicht für zutreffend (vgl. a)). Etwas anderes ergibt sich u. E. auch nicht aus der verfassungsrechtlichenWertung, dass beratene Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich nicht als rechtmäßig anzusehen sind (vgl.b)).
a) Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, das ungeborene Leben zu schützen. Es gebietet ihm, „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“8. Diese Schutzpflicht folgt aus Artikel 1 Absatz 1 GG, ihr Gegenstand und ihr Maß werden durch Artikel 2 Absatz 2 GG näher bestimmt.9 Der Schutz des unge- borenen Lebens gilt nicht absolut. Die Rechte der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschenwürde, ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und ihr Persönlichkeitsrecht können als kollidierende Rechte dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes entgegenstehen.10
Die geltenden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch sind eine Kompromisslösung, die sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Frau als auch den Schutz des ungeborenen Lebens berücksichtigen. Danach sind Schwangerschaftsabbrüche gegen den Willen der Frau strafbar. Bei den in der Praxis ab- geurteilten Fällenhandelt es sich regelmäßig um Gewalttaten gegen Frauen und das ungeborene Kind, bei denen derSchwangerschaftsabbruch in Tateinheit mit einer (schweren) Körperverletzung oder gar einer Tötung der schwangeren Frau verübt wurde. Strafbewehrt sind ferner Verstöße der Ärztinnen und Ärzte gegen Verhaltenspflichten des Beratungskonzepts.
Deutlich zurückgenommen sind hingegen die Strafvorschriften in Bezug auf die Schwangere. Die §§ 218, 218a,219 StGB in Verbindung mit dem Schwangerschaftskonfliktgesetz sind von der Überzeugung getragen, dass der Schutz des ungeborenen Lebens, insbesondere in der ersten Phase der Schwangerschaft, „nur mit der Mutter“ möglich ist. Beratung und Information über konkret bestehende Hilfsangebote sollen die Schwangere nach dem Prinzip „Hilfe statt Strafe“ darin unterstützen, sich für ein Leben mit dem Kind und gegen den Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Sie bleibt straffrei, wenn nach Beratung und 3-tägiger Wartefrist derSchwangerschaftsabbruch durch einen Arzt innerhalb von zwölf Wochen seit der Empfängnis erfolgt (§ 218a Absatz 1 StGB). Dabei fällt der beratene Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Absatz 1 StGB bereits nicht unter den Tatbestand des § 218 StGB (Tatbestandslösung). Nach dieser sog. Beratungslösung gemäß § 218aAbsatz 1 StGB werden in der Praxis ca. 96% der Abbrüche (von insgesamt im Durchschnitt ca. 100.000 jährlich) vorgenommen.11 In der strafrechtlichen Forensik scheint die Einhaltung des geltenden legislativen Schutzkonzepts keine größeren Probleme zu bereiten. Die §§ 218a Absatz 1, 219 StGB kriminalisieren mithin nicht den selbstbestimmten beratenen Schwangerschaftsabbruch. Sie stellen die Frau vielmehr ausdrücklich straflos. DerArzt, der sich an die gesetzlichen Regelungen hält, macht sich nicht strafbar. Die Schwangere ist auch nicht nach § 218 StGB strafbar, wenn der Abbruch nach Beratung (§ 219 StGB) von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind (§ 218a Absatz 4 Satz 1 StGB). Zudem kann das Gericht von Strafe nach § 218 StGB absehen, wenn die Schwangere sich zur Zeit des Eingriffs inbesonderer Bedrängnis befunden hat (§ 218a Absatz 4 Satz 2 StGB).
Liegen die Voraussetzungen der kriminologischen oder medizinischen Indikation gemäß § 218a Absatz 2 bzw. Absatz 3 StGB vor, ist der Abbruch ferner rechtmäßig.
Die Ausgangsannahme für eine Änderung der geltenden Rechtslage, dass die rechtlichen Regelungen den Schwangerschaftsabbruch die Ärztinnen und Ärzte und ungewollt Schwangere kriminalisieren beziehungsweise stigmatisieren, halten wir daher für nicht zutreffend.
b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass beratene Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich als rechtswidrig angesehen werden. Dies ist aus Sicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konsequent.12 Das geltende Beratungskonzept ist von der Erkenntnis geprägt, dass derSchutz des ungeborenen Lebens sich nur mit der Schwangeren und nicht gegen sie erreichen lässt. Die Schutzwirkung für das ungeborene Leben soll durch ein Beratungskonzept erreicht werden, in dem die Schwangere in der Beratung darin unterstützt werden soll, sich für das Kind zu entscheiden. Der ungewollt Schwangeren wird gerade nicht abverlangt, eine unzumutbare persönliche Ausnahmelage darzulegen, die den Schwangerschaftsabbruch rechtfertigt. Das Beratungskonzept setzt vielmehr auf die letztverantwortlicheEntscheidung der Frau nach dem Beratungsgespräch. Das Bundesverfassungsgericht hat es für den Schutz desungeborenen Lebens als problematisch angesehen, wenn ein Schwangerschaftsabbruch auch in diesen Fällen als rechtmäßig bewertet wird, in denen auf die Feststellung einer unzumutbaren Ausnahmesituation verzichtetwird. Auf diese Weise würde der rechtliche Schutz des ungeborenen Lebens geschwächt, den das prinzipielle Verbot des Schwangerschaftsabbruchs durch die Aufrechterhaltung des Rechtsbewusstseins zu bewirken vermag.13 Die staatliche Schutzpflicht erforderte es aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts, auch bei Übergang in ein Beratungskonzept das Bewusstsein vom verfassungsrechtlichen Rang des Rechtsguts des ungeborenen Lebens, sein Recht auf Leben, wach zu halten, das im Schwangerschaftskonflikt existenziell gefährdet ist. Insoweit geht es um eine rechtlich-normative Orientierung im Abwägungsprozess der einenSchwangerschaftsabbruch erwägenden Frau.14 Das wird auch in ethischer Perspektive dem Konzept der Verantwortung gerecht, wenn die Frau nach der Beratung – unbeschadet der Verantwortung des Vaters und des sozialen Umfelds – die letztverantwortliche Entscheidung trifft. Diesen generalpräventiven Gesichtspunkten des Bundesverfassungsgerichts trägt die geltende Regelung Rechnung, die damit aber keine Kriminalisierung des individuellen, beratenen Schwangerschaftsabbruchs beinhaltet.
2. Wir haben die Sorge, dass eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts das ungeborene Leben nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße schützt und dem Untermaßverbot nicht genügt. Insoweit ist in der Debatte – unbeschadet berechtigter Interessen – ebenso sorgfältig darauf zu achten, dass die Grundrechtsposition der Frau nicht der des ungeborenen Lebens übergeordnet wird. Änderungsvorschläge, die einen abgestuften verfassungsrechtlichen Lebensschutz vor der Geburt zugrundelegen, verkennen, dass das ungeborene Leben wie das geborene Leben zu schützen ist (vgl. a)). Ein im Sinne des Verfassungsrechts wirksamer Schutz ungeborenen Lebens setzt spezifische Regelungen mit präventiver und repressiver Wirkung voraus, die sich nicht durch allgemeine Schutzvorkehrungen und ungezielte Maßnahmen ersetzen lassen (vgl. b)). Dabei kommt dem Strafrecht als Regelungsort eine generalpräventiveFunktion zu (vgl. c). Die Regelungen müssen ferner auch in ihrer Gesamtwirkung geeignet sein, einen wirksamen Schutz zu garantieren (vgl. d)).
a) Eine Regelung, die von einem abgestuften Lebensschutz ausgeht, wird den Vorgaben der Verfassung nichtgerecht. Unsere Verfassung schützt das Leben von Anfang an. „Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der „lebt“; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden.“15 Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet nicht zwischen unterschiedlichen biologischen Entwicklungsgraden. Denn der Mensch entwickelt sich als Mensch und nicht zum Menschen16. Für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs begründet das Gericht dies damit, dass der Schutz des Lebens unvollständig wäre, wenn nicht auch das ungeborene Leben umfasst wäre und verweist auf die Entstehungsgeschichte des Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG.17 In der Literatur wird diesePosition teilweise infrage gestellt und für einen abgestuften Lebensschutz argumentiert. Mit unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Begründung kommen die Vertreter dieser Position zu dem Ergebnis, dass dem vorgeburtlichen Leben zumindest in der ersten Phase bis zur 22. Woche der Schwangerschaft keine eigenständige oder nicht in gleicher Weise Menschenwürde zukomme wie Menschen nach der Geburt. Der Embryo sei nicht aus sich heraus Träger der Menschenwürde. Teilweise wird auch der Ansatz vertreten, der menschliche Würdeschutz wirke lediglich punktuell in die vorgeburtliche Phase hinein, wenn etwa eine Manipulation an der genetischen und körperlichen Ausstattung den Menschen auch nach seiner Geburt beeinträchtigen würde.18 Ein solcher Ansatz machte den Schutz nach Artikel 1 Absatz 1 GG freilich davon abhängig, dass der Embryo lebend geboren wird. Das Bundesverfassungsgericht hat hingegen dargelegt, dass menschlichem Leben generell Menschenwürde zukommt. Dabei ist es nicht entscheidend, dass der Träger dieses Rechts sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. „Die von Anfang an immenschlichem Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“19 „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu. Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen“.20 Für diese Sichtweise spricht, dass sie es vermeidet, dass Menschen über den Würdegrad anderer nach Entwicklungsstufen oder Fähigkeiten urteilen, was immer an sich schon eine Ungleichheit beinhaltet und damit dem mit der Menschenwürde verknüpften Anspruch auf Achtung als Gleiche widerspricht. Eine verfassungsrechtlich hergeleitete Abstufung beim Lebensschutz könnte auch Auswirkungen für den Lebensschutz in anderen Phasen menschlichen Lebens nach der Geburt bis zum Tod haben. Eine Relativierung des vorgeburtlichen Würde- und Lebensschutzes in der ersten Phase könnte zudem Folgen für die bioethische wie verfassungsrechtlicheInteressenabwägung bei einer Vielzahl komplexer Fragestellungen im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin, Embryonen- und Stammzellenforschung, genetischen Selektion sowie derVerwertung „überzähliger“ Embryonen für die Arzneimittelherstellung und Schutz gegen Eingriffe privater Dritter haben.
Für eine Abstufung des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes lässt sich u.E. auch nicht anführen, dass dasgeltende Strafrecht beim Schwangerschaftsabbruch in verschiedenen zeitlichen Abstufungen einsetzt. Die strafrechtliche Abstufung stellt die verfassungsrechtliche Wertentscheidung gerade nicht infrage. Derverfassungsrechtlichen Wertentscheidung gebührt auch weiterhin der Vorrang.
b) Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, das ungeborene Leben durch „Verhaltensanforderungen“ zu schützen, die nicht lediglich freiwillig sein dürfen. Sie sind vielmehr als Rechtsgebote mit verbindlichen Rechtsfolgen auszugestalten21 und sollen „Elemente des präventiven wie des repressiven Schutzesmiteinander verbinden“.22 Allgemeine Regelungen einer verbesserten Sozial- und Familienförderung, so wünschenswert sie auch sind, reichen mithin als Vorschriften zur Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Schutzes ungeborenen Lebens nicht aus. Es bedarf spezifischer Schutzvorkehrungen für das ungeborene Leben im konkreten Schwangerschaftskonflikt. Sie können daher die geltenden Regelungen nur ergänzen, aber nicht ersetzen.
Das Erfordernis, dass präventive und repressive Maßnahmen verbunden sein müssen, lässt es auch nicht zu,auf eine Beratungspflicht zu verzichten. Ohne die staatlich garantierte Pflichtberatung würde ein wesentlicher Bestandteil des Beratungskonzepts fortfallen, das den Schutz des ungeborenen Lebens mit und über die Mutter zu erreichen sucht.
Als weitere repressive Maßnahme hat das Bundesverfassungsgericht, wie oben dargelegt, gefordert, dass Verstöße gegen gesetzliche Vorgaben des Beratungskonzepts seitens der Ärzte strafbewehrt sein müssen.23 Erst recht muss dann auch ein Schwangerschaftsabbruch gegen den Willen der Frau durch Ärzte und Dritte strafbewehrt sein. Diese Regelungen sind als Delikte gegen das Leben zutreffend im Strafgesetzbuch verankert.
c) Das Strafrecht ist regelmäßig der Ort, an dem wichtige Rechtsgüter nach unserer Rechtsordnung geschützt werden. Zu der vom Bundesverfassungsgericht geforderten positiven Generalprävention als Teil des Schutzkonzepts trägt die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafrecht im Rahmen der Delikte,die gegen das Leben gerichtet sind, wesentlich bei. Das BVerfG hat ausgeführt, dass dem Strafrecht die Aufgabe zukommt, „die Achtung und grundsätzliche Unverletzlichkeit menschlichen Lebens zu schützen.“24 Demnach ist das Strafrecht regelmäßig der Ort, „das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs zu verankern.“25 Sollte für bestimmte Fallkonstellationen eine Regelung außerhalb des Strafrechts gewählt werden, muss diese nach den Darlegungen des Bundesverfassungsgerichts aber „die grundgesetzlich gebotene Missbilligung des Schwangerschaftsabbruchs“ zum Ausdruck bringen.
In weniger bedeutsamen Organisationsnormen kann allerdings nach unserer Auffassung diese Wertung nicht vergleichbar zur Geltung kommen. Bei einer Verlagerung von Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch heraus sehen wir daher die große Gefahr, dass, selbst wenn es nicht beabsichtigt sein sollte, dies von der Allgemeinheit als Zeichen einer symbolischen Herabstufung der Wertigkeit der Normen und der dahinterstehenden Regelungsziele – Schutz des ungeborenen Lebens – verstanden wird. Die Folge wäre auch in diesem Fall ein verfassungsrechtlich nicht zulässiger abgestufter Lebensschutz. Die beschriebene negative Signalwirkung ergibt sich aus unserer Sicht bei allen denkbaren alternativen Regulierungsmodellen, also bei einer strafrechtlichen Regelung in einem Nebengesetz wie zum Beispiel dem Schwangerschaftskonfliktgesetz oder einem gesonderten Reproduktionsmedizingesetz, bei einer Sanktionierung als Ordnungswidrigkeit und erst recht bei einem Verzicht auf jegliche Sanktionsregeln.
d) Bei der Beurteilung, ob das ungeborene Leben angemessen geschützt wird, ist auch die Gesamtwirkung der gesetzlichen Regelungen zu beachten. Sie müssen in ihrer Gesamtheit dem Untermaßverbot genügen. Mit den geltenden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch bewegt sich das Recht bereits heute eher an der Untergrenze des zum Schutz des ungeborenen Lebens verfassungsrechtlich Erforderlichen, soweit es als reines prozedurales Schutzkonzept durch Frist und Beratung gestaltet ist.
In Bezug auf das Beratungskonzept wird infrage gestellt, ob die Beratung stets den gesetzlichen Vorgabenfolgt und wie in § 219 Absatz 1 StGB gefordert, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigt.26 Etwaige Vollzugsdefizite können die effektive Erfüllung einer Schutzpflicht infrage stellen. Denn die Schutzpflicht enthält nicht nur einen Gesetzgebungsauftrag, sondern ebenso einen Vollzugsauftrag. Werden Regelungen nicht vollzogen, können sie anders als vom Gesetzgeber gewollt nicht zur Bildung und Stabilisierung des Rechtsbewusstseins beitragen.27 Das Untermaßverbot wäre verletzt.
Das Untermaßverbot könnte letztlich auch bereits tangiert sein, weil das bisherige Gesamtkonzept zum Schutz des ungeborenen Lebens bereits weiter geschwächt worden ist. Aufgrund der Ermöglichung von Werbung für Schwangerschaftsabbrüche durch die in dieser Legislaturperiode erfolgte Abschaffung des § 219a StGB ist der staatliche Schutz des ungeborenen Lebens symbolisch und faktisch verringert worden, ohne dass dies durch die lückenhaften und unpassenden Regelungen des Heilmittelwerbegesetzes ausgeglichen wird. Jeder weitere Schritt des Gesetzgebers, der den verfassungsrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens oder seine Anerkennung zurücknimmt, bringt das Recht noch stärker mit dem Untermaßverbot in Konflikt.
3. Höchst fraglich ist ferner, ob sich mit der Herausnahme der Normen aus dem Strafrecht die rechtliche undtatsächliche Situation der schwangeren Frau überhaupt verbessert und ob hierfür keine milderen Mittel zur Verfügung stünden. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem aufsorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen müssen28.
Es kann nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass eine außerstrafrechtliche Regelung etwa bereits zu einer veränderten Versorgungslage führt, sollte diese in einzelnen Regionen tatsächlich nicht ausreichend sein. Eine Kriminalisierung beziehungsweise Stigmatisierung von Ärztinnen und Ärzten kann der geltenden Rechtslage nicht entnommen werden (s.o. II.1). Ein bestehender gynäkologischer Fachkräftemangel ließe sich durch die angedachte Rechtsänderung ebenfalls nicht beheben. Auch ist es Ausdruck der persönlichenGewissensentscheidung einer Ärztin oder eines Arztes, keinen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu wollen. Den Ländern kommt die Aufgabe der Gewährleistung einer ausreichenden Versorgungslage zu, die erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen ergreifen können (§ 13 Abs. 2 SchKG). Eine verfassungskonforme Begrenzung von sog. Gehsteigbelästigungen könnte gegebenenfalls auch ein milderes Mittel darstellen.
Auch ein Verzicht auf eine Beratungspflicht würde die Situation ungewollt schwangerer Frauen grundsätzlichnicht verbessern. Zumal dann die Gefahr bestünde, dass der Schwangerschaftsabbruch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung individualisiert wird und der Staat sich aus seiner Verantwortung zurückzieht. Eine ungewollte Schwangerschaft ist eine höchstpersönliche und emotional sehr sensible Situation. Zweifellos kann es subjektiv als eine Zumutung empfunden werden, eine Beratungsstelle aufzusuchen und einer fremden Beratungsperson gegenübertreten zu müssen. Zu beachten ist aber, dass Fälle ungewollter Schwangerschaften und gewünschter Abbruchentscheidungen von Frauen höchst unterschiedlich sind. Viele Frauen machen die Erfahrung, dass aus dem eigenen privaten Umfeld Druck auf sie ausgeübt wird, sei es für oder gegen die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch. In solchen Situationen bietet die Pflichtberatung für Frauen eine wichtige Möglichkeit, innerhalb eines Schutzraums sich mit einer neutralen Person auszutauschen und sich eine eigene und selbstbestimmte Meinung bilden zu können. Viele Frauenbetrachten das Gespräch mit einer Person, die Erfahrung im Umgang mit Schwangerenkonfliktfällen hat und deshalb die eigenen Fragen individuell und professionell beantworten kann, als Unterstützung in der eigenen verantwortlichen Entscheidungsfindung. Zu Fragen, die in einem solchen sozial-psychologisch ausgerichteten Beratungsgespräch gestellt werden können, gehören auch Informationen über vorhandene staatliche oder kirchliche Hilfen, die der Frau trotz schwieriger Ausgangslage ein Leben mit dem ungeplanten Kind ermöglichen (vgl. § 219 Absatz 1 Satz 4 StGB i.V.m. § 5 Absatz 2 Ziffer 3 SchKG).
Vorgeschlagene allgemeine frauen-, familien-, wohnungs- und sozialpolitische Maßnahmen können ganz im Sinne des bereits heute geltenden Grundsatzes des legislativen Schutzkonzeptes „Hilfe statt Strafe“ die geltenden Regeln ergänzen, ohne sie – verbunden mit der Gefahr der Verletzung des Untermaßverbots zu Lasten des ungeborenen Lebens – zu ersetzen. Eine humane und hochentwickelte Gesellschaft und ein Sozialstaat sind grundsätzlich gefordert, über geeignete Rahmenbedingungen dem entgegenzuwirken, dass externe soziale Faktoren die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch wesentlich bestimmen29.
4. Zweifelhaft ist, ob die geltende Regelung den Lebensschutz bei einer vermuteten oder diagnostizierten Behinderung des ungeborenen Kindes ausreichend gewährleistet. Dies ist in die Diskussion um §§ 218ff StGB einzubeziehen. Das gilt sowohl für den Abbruch in der Früh- wie in der Spätschwangerschaft. Die medizinische Indikation, worunter in der Spätschwangerschaft faktisch auch alle Abbrüche aufgrund einer erwarteten Behinderung des Kindes fallen, ist rechtlich bis zur Geburt möglich und rechtmäßig, eine Regelung, die hochproblematisch ist, worauf wir stets hingewiesen haben. Durch die Entwicklungen im Bereich derReproduktionsmedizin und im Zusammenhang mit der Kassenzulassung des nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) hat sich die Situation noch verschärft.
Berlin, den 22. November 2023
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1 Gott ist ein Freund des Lebens, Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, 1989, S. 69.
2 Gott ist ein Freund des Lebens, a.a.O. Fn 1, S. 40.
3 Vgl. a. Sautermeister, Eine doppelte Anwaltschaft, in: HerderKorrespondenz 11/2023, S. 31-33.
4 Die häufig zitierten Äußerungen völkerrechtlicher Gremien wie zum Beispiel dem Ausschuss der Frauenrechtskon- vention CEDAW der Vereinten Nationen entfalten gegenüber den Nationalstaaten wie Deutschland zunächst keine verbindliche Rechtswirkung. Auch bei der Abortion Care Guideline der Weltgesundheitsorganisation von 2022 han- delt es sich um eine Empfehlung. Dabei steht bei den genannten Gremien und der Guideline die gesundheits- und frauenspezifische Perspektive im Fokus. Die Rechte des ungeborenen Lebens sind hier nicht Gegenstand. Die gel- tende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland dürfteaber auch mit den völkerrechtlichen Anforde- rungen zum Schutz von Selbstbestimmung und Gesundheit der Frau vereinbar sein.
5 Gott ist ein Freund des Lebens, a.a.O. Fn.1, S.43f.
6 BVerfGE 88, 203, 254.
7 Stellungnahme der Vorsitzenden des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologinnen und Theologenvom 20.10.2023, abrufbar unter https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/zur-diskussion-um- eine-rechtliche-neuregelung-des-schwangerschaftsabbruchs
8 BVerfGE 39, 1, 42, BVerfGE 88, 203, 251.
9 BVerfGE 88, 203, 251f.
10 BVerfGE 88, 203, 254.
11 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/12/PD22_539_233.html.
12 Gropp/Wörner in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2021, § 218a Rn 10f, 38.
13 BVerfGE 88, 203, 278.
14 BVerfGE 88, 203, 270.
15 BVerfGE 39, 1, 37, vgl. BVerfGE 88, 203, 251f.
16 BVerfGE 88, 203, 252, vgl. BVerfGE 39, 1, 37.
17 BVerfGE 39, 1, 40f, vgl. BVerfGE 88, 203, 251f.
18 Wapler, in: F. Brosius-Gersdorf (Hrsg.), Dreier-Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 4. Auflage 2023, Artikel 1 Absatz 1
Rn.82 ff, 90, 91.
19 BVerfGE 39, 1, 41, BVerfGE 88, 203, 251
20 BVerfGE 88, 203, 252.
21 BVerfGE 88, 203, 252f.
22 BVerfGE 88, 203, 261.
23 BVerfGE 88, 203, 293.
24 BVerfGE 88, 203, 257.
25 BVerfGE 88, 203, 258.
26 Christian Hillgruber, „Lebensschutz durch soziale Kommunikation – Anspruch und Scheitern eines Konzepts“, in Zeitschrift für medizinische Ethik 2023, S. 221, 228.
27 Josef Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111 Rn. 165 ff.
28 BVerfGE 88, 203, 254.